In einem Wohnheim sind zwei zerbrochene Scheiben auszumessen, ich fahre da gleich mal hin. Altstadt, Parkplatz vor der Tür, man muss auch mal Glück haben. Drinnen werde ich schon erwartet und man führt mich in den ersten Stock, wo die erste der Scheiben in einem bewohnten Zimmer zu finden ist. Vor dem Fenster steht ein Bett, in dem ein Mann tief und fest schläft. Wie sich herausstellt, ist er unweckbar.
„Stört nicht, ich komme so klar.“ Sage ich und messe mit sehr langen Armen in einer Alkoholwolke.
„Nicht, dass ihm Scherben ins Gesicht fallen…“ Mein mir zugeteilter Begleiter ist besorgt.
„Nein, ich messe ja nur und der Riss ist doch auch abgeklebt. Bin auch schon fertig.“
„Der kann nämlich ganz ungemütlich werden.“ sagt er und ich bin froh, dass der schlafende Mann tatsächlich überhaupt nichts mitbekommt.
„Wo ist die zweite Scheibe?“ Ich will jetzt aus dem Zimmer raus..
„In der Kammer um die Ecke. Da ist ein Dachfenster kaputt.“
Kammer trifft es ganz gut, Kämmerchen wäre ein Volltreffer gewesen.
Ich betrete das wirklich sehr kleine Zimmer und erahne das Dachflächenfenster in dem engen Schacht einige Meter über mir und sehe gleich, dass es in schlechtem Zustand. Ist. Schon lange Zeit kaputt, es hatte wohl schon öfter hereingeregnet, die Wände des Schachtes sehen entsprechend aus.
„Haben Sie mal eine Leiter? So komme ich da ja nicht an.“
„Ja“ sagt der freundliche Mitarbeiter. „Die muss ich aus dem Schuppen holen. Moment.“
Er verschwindet ins Erdgeschoss, auf dem Flur höre ich ihn noch nach einem
weiteren Mitarbeiter rufen.
Ich sehe mich ein wenig um. Das Zimmer ist wirklich erstaunlich klein, neben dem Bett könnte man gerade eben gehen oder stehen, wenn da nicht ein Tisch stehen würde und am Fußende ist knapp Platz für einen schmalen Kleiderschrank, an
dem die Tür lose in den Beschlägen hängt. Auf dem Tisch steht ein elektrischer Heizkörper. Der Tisch muss raus, denke ich, da muss ja gleich die Leiter stehen. Ich wuchte den Heizkörper aufs Bett und nehme den Tisch in die Hand. Wie dumm, dass ich den aber nirgends abstellen oder –legen kann, ich kann mich ja nicht einmal damit umdrehen. Also den Tisch wieder hingestellt, den Heizkörper vom Bett an die Wand am Fußende – ach nein, da ist ja die Tür. Ich bin ein wenig genervt, stelle ich fest. Ich nehme den Heizkörper in die eine Hand, wuchte mit der Anderen den Tisch umgedreht aufs
Bett und lege den Heizkörper darauf. Reichlich Platz hier, denke ich. Und: Wo bleibt die Leiter?
Ich gehe zurück auf den Flur und begrüße die Putzfrau, die gerade ein anderes Zimmer betritt. Sie weist den Bewohner an, er möge seine Sachen hochstellen, sie wolle fegen.
„Wie heißt du eigentlich mit Nachnamen?“ fragt der, „wir sollen euch ja nicht duzen.“
„Petersen, das habe ich dir schon mal gesagt.“
„Gut.“ antwortet er und schiebt noch ein „Musst du heute noch nass wischen, Frau Petersen?“ hinterher.
Langsam gefällt es mir hier doch ganz gut.
Inzwischen höre ich die Leiter kommen. „Die spielen mit Bande.“ sage ich mir und gehe ein Stück in Richtung Krach. Die Leiter wird die Treppe hochgeprügelt und überall, wirklich überall angestossen. Es ist eine dreiteilige Ausziehleiter aus Aluminium, sie ist sehr alt, sehr rostig und sehr dreckig. Und sie wird nicht in das Zimmer passen, fürchte ich. Wir
bugsieren die Leiter in das Zimmer, sie passt so gerade eben mit viel Glück neben das Bett in den Schacht. Ich setze mich auf das Bett, um die Sperre zu lösen, damit wir die Leiter ausziehen können. Die Sperre wehrt sich erfolgreich. Nach einigen Versuchen nehme ich die Sperre des Mittelteils, diese öffnet sich und ich kann zwei Leiterteile zusammen hochschieben. Geht ja auch, sage ich mir, aber der Schacht ist jetzt voll. Es bleibt kaum Platz, um da hochzusteigen. Wie ein Aal winde ich mich in die Höhe und der Dreck der Leiter wirft sich schützend über mich. Immerhin lässt sich das Fenster öffnen, das
Ausmessen macht keine Probleme.
Ich mache mich an den Abstieg, komme ganz gut voran, merke aber, dass meine Jacke sich entschlossen hat, sich mit der Leiter zu verbünden und hartnäckig oben bleiben will. Als wir uns endlich einig werden, ist die Leiter blitzsauber. Die letzten Sprossen nehme ich im freien Fall, weil ich nicht nach unten sehen kann und die Entfernung verpeile. Jetzt schnell das Maß aufschreiben, wie war die Breite? 38 cm? Tief durchatmen, konzentrieren, alles wird gut.
„So“ sage ich, „die Leiter kann dann erst mal wieder weg. Ich wollte ja nur Ausmessen. Die Scheibe hat ein paar Tage Lieferzeit, die bauen wir nächste Woche ein.“
„Und dann braucht ihr die Leiter wieder?“ Aus der Stimme klingt das blanke Entsetzen.
„Nein, wir bringen dann unsere Eigene mit, die kann ja hier auch eine Nummer kleiner sein.“
Ich verfolge den Abgang der Leiter und bedaure die Putzfrau ein wenig, sie hatte ja gerade erst gefegt.
Ich beschließe, dem Gesellen nicht allzu viel über diese Baustelle zu erzählen.
Ich habe dem Leiter des Wohnheims ein Angebot erstellt und bin sehr gespannt, ob das ein Auftrag wird. Dann werde ich berichten.
Haust da in diesem Zimmer jemand? Und warum steht die Heizung auf dem Tisch? Das ist vermutlich kein Wohnheim, das scheint eine Legebatterie zu sein…
Da haust jemand, ja. Ein Wohnheim am unteren Rand der Gesellschaft. Die Heizung muss auf dem Tisch stehen, weil sonst nirgendwo Platz ist. Dieses Zimmer ist aber auch besonders erbärmlich, die anderen sind größer.